Der Rausch der Geschichte
Es war einmal ein kleiner Junge, der wurde in der Stadt Bombay geboren... Nein, so geht es nicht, ich kann mich um das Datum nicht herummogeln: Ich wurde am 15. August 1947 in Dr. Narlikars privatem Endbindungsheim geboren.
(Salman Rushdie: Mitternachtskinder)
Es riecht! Die Bühne riecht! Der Raum riecht. Wonach? Nach Curry, nach Brot, nach Gewürzen und Fremden. Nach Welt und Geschichte. Ohrenbetäubender Lärm lässt den Zuschauerraum der Kammerspiele erbeben. Allmählich sind Stimmen herauszuhören. Stimmen, die von den Treppenaufgängen herkommen. Das Auge gewöhnt sich an die plötzliche Dunkelheit und schon ist man mitten drin: in der Konferenz der Mitternachtskinder.
Wenn der gemeine Mitteleuropäer nach Struktur und Ordnung sucht, verzweifelt er zunächst an Abhilash Pillais Bühnenfassung von Salman Rushdies Midnight’s Children. Konfus und chaotisch muten die ersten Minuten an. Überall buntgewante Gestalten, manche schreien, andere versuchen sich in gemäßigterem Ton gegen das Auditorium durchzusetzen. Irgendwann wird es stiller. Sowohl am rechten wie auch am linken Bühnenrand zwei Küchen. Könnten es auch Wohnbereiche mit Kochstelle sein? Zwischen ihnen ein in drei Ebenen geteilter stundenglasförmiger Spielbereich. Oder ist es doch nur eine bespielte Leinwand? An den Rändern des hinteren Bühnenraums deckenhohe Aufbauten, beklebt mit Zeitungsartikeln. Immer wieder wird das Spiel durch Videoprojektionen unterbrochen. Filme führen den Zuschauer durch die Historie Indiens und Pakistans und langsam, es ist kaum wahrzunehmen, ordnet sich das vermeintliche Chaos. Links beginnt Saleem Sinai aus seinem Leben zu erzählen. Rechts lauscht seine Freundin den aberwitzigen Geschichten. Auf der Leinwand – oder ist es doch eine Bühne? – beginnt das Spiel...
So verwirrend Midnight’s Children zunächst erscheinen mag, alles wird von einer verborgenen Hand geordnet und zusammengefügt. Nach 200 Minuten Achterbahnfahrt durch die Geschichte des Subkontinents finden sich Sinn und Struktur zusammen. Pillais Interpretation des Stoffes ordnet nicht. Sie verlässt sich vollends auf die Elemente und die Sogwirkung von Rushdies 1980 veröffentlichtem Roman. Aberwitzig rast der Protagonist durch die Zeiten, verliert immer wieder scheinbar die Fäden seiner Erzählung und fügt sie dennoch immer wieder zusammen. In der Nacht, als Indien die Unabhängigkeit erlangte, wurden mit ihm 1000 Kinder geboren. Beschenkt mit außerordentlichen Fähigkeiten, spiegeln sie in ihrem Leben und Streben die Geschichte ihrer Heimat wieder. Im Taumel der neu gewonnenen Freiheit sich zerreißend, werden Brüder zu Feinden, sterben ganze Familien weg, nur um im nächsten Moment vom Lauf des Lebens erneut in die Geschichte der Welt hineingeworfen zu werden. Die Wege der Götter sind unergründlich, das Streben Allahs so oft nebulös. Glück und Zukunft liegen in den Händen der Menschen, in familiärer Arbeit und Liebe, im Streben und Handeln der Nationen. Alles ist eins und doch mitunter ein zerbrechliches Konstrukt.
Es mag in all diesen Zusammenhängen verwunderlich klingen, wenn man dem Abschlussjahrgang der National School of Drama attestiert, erstaunlich klar und präzise zu arbeiten. Doch ist es genau diese Präzision, die Midnight’s Children zwischen Hightechbühnenstück und naivem Spiel zusammenhält. Pillai zeigt die Welt als janusköpfiges Ungetüm. Nur im rechten Maß, in einer Zwischenwelt sind beide Pole zu einem nachvollziehbarem Ganzen zusammenzufügen. Geht mal ein Faden verloren, braucht sich der Zuschauer nicht zu sorgen: er wird ihn wiederfinden – und wenn er ihn einmal hat, sich zurücklehnen und erneut durchschütteln lassen von einem Theatererlebnis, das zwar sowohl physisch wie auch psychisch erschöpft, aber sicherlich nicht so schnell vergessen werden kann.
MIDNIGHT’S CHILDREN (MITTERNACHTSKINDER). Schauspiel von Abhilash Pillai nach dem Roman von Salman Rushdie (in Hindi mit Simultanübersetzung). Kammerspiele Bonn-Bad Godesberg.
Europa-Premiere: 13.05.2006. Inszenierung: Abhilash Pillai. Produktion: National School of Drama (Indien)