Leben im Ausnahmezustand
Dass die Themen Bürgerkrieg und Terrorismus nicht zu trennen sind, legte der italienische Philosoph Giorgio Agamben bereits kurz nach dem 11. September 2001 in zwei Vorträgen an der Universität von Princeton nahe. Nun sind seine Ausführungen in deutscher Übersetzung im Band Stasis. Der Bürgerkrieg als politisches Paradigma erschienen. Sie zeigen den italienischen Philosophen nicht nur als brillanten Essayisten, sondern auch als wichtigen Denker der Gegenwart.
Will man 2016 mit einem Ausdruck beschreiben, ist es wohl weniger das jüngst gekürte Wort des Jahres »postfaktisch«, das treffend erscheint, sondern eher der Begriff ›Bürgerkrieg‹, der angebracht wäre, um die zurückliegenden Monate einzuordnen. Da sind im Bilderstrom zahlloser Terrorakte, die jeden Tag aufs Neue in die Wohnzimmer drängen, Nachrichten aus der Stadt Aleppo, die einmal mehr zeigen, wie sehr Syrien seit fünf Jahren in einem Bürgerkrieg versinkt. Da ist der Hass und die Wut »besorgter Bürger«, der sich nicht nur im Internet, sondern auch wie in Dresden, Leipzig, Clausnitz und anderen Orten direkt auf der Straße äußert und immer öfter in Gewalt gegen Leib und Leben unschuldiger Menschen umschlägt. Da sind die Populisten, die angesichts dessen scheinbar beiläufig und leichtfertig vor einem Bürgerkrieg in Deutschland warnen, und nicht zuletzt auch die Frage, was ein derartiges Ereignis eigentlich ausmacht.
Beschäftigt man sich mit dem Thema, stößt man schnell auf einleuchtende Erklärungen. Immer wieder ist von bewaffneten Auseinandersetzungen innerhalb eines Staatsgebiets die Rede. Es fällt jedoch auf, dass eine Theorie des Bürgerkriegs im Gegensatz zu theoretischen Einordnungen der Revolution beispielsweise nicht existiert. Das ist verwunderlich, zumal die Zahl von Bürgerkriegen in den vergangenen Jahrzehnten – auch in Form von sog. Stellvertreterkriegen – so sehr zugenommen hat, dass sie kriegerische Auseinandersetzungen, die bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts noch zwischen einzelnen Ländern herrschten, quasi ersetzt haben. Spätestens seit dem 11. September 2001 hat die Menschheit zudem verstärkt mit dem Terrorismus zu leben, dessen Folgen bis in die eigene Privatsphäre hinein zu erdulden sind.
Das Private ist politisch
Lassen sich die beiden Begriffe Bürgerkrieg und Terrorismus denn miteinander verbinden? Glaubt man Giorgio Agamben und seinem jüngst erschienenen Werk Stasis. Der Bürgerkrieg als politisches Paradigma, ist diese Frage ganz knapp mit ja zu beantworten. Er begreift den Terrorismus, wie er gegenwärtig international zu beobachten ist, als »Weltbürgerkrieg« und bedient sich dabei eines Begriffs, der auf Carl Schmitt zurückgeht. Um zu erklären, weshalb diese Beziehung gedacht werden kann, nähert sich Agamben dem Thema Bürgerkrieg von antiken Quellen und stellt fest, dass die Wurzeln dieser Form der Auseinandersetzung in den familiären Zusammenhängen liegen und von dort nach außen, in die Öffentlichkeit, drängen. Er beschreibt den Bürgerkrieg als einen Akt, in dem das Private plötzlich politisch wird und sich der öffentliche Raum im Gegenzug entpolitisiert.
Agambens Überlegungen gehen auf zwei Vorträge zurück, die er im Oktober 2001 an der Universität von Princeton gehalten hat. Während der erste jene Überlegungen zusammenfasst, die zum besseren Verständnis des Phänomens Bürgerkrieg beitragen können, liefert der zweite Beitrag eine interessante Interpretation des bekannten Frontispizes von Thomas Hobbes Leviathan, die das bereits Erwähnte anschaulich ergänzt. Angesichts der gegenwärtigen Ereignisse, die zeigen, dass es keinen Rückzugsort mehr vor dem Terror gibt, kann Agamben mit diesen Gedankengängen in Stasis nicht nur sprachlich überzeugen. Einmal mehr stellt er in dieser Fortsetzung des vor zwei Jahrzehnten begonnenen Projekts Homo sacer, in dem er sich bisher beispielsweise nicht nur auf äußerst kluge Weise mit dem Thema Konzentrationslager, sondern auch dem mönchischen Leben beschäftigt hat, unter Beweis, dass er ein wichtiger Denker der Gegenwart ist.
Giorgio Agamben: Stasis. Der Bürgerkrieg als politisches Paradigma. S. Fischer Verlag: Frankfurt a. M., 2016. 93 Seiten. ISBN: 978-3-10-002452-7. Preis: 20,- Euro – auch als E-Book erhältlich.